[Merkur Heft 781, Juni 2014]
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Ausstellung von Bill Viola im Pariser Grand Palais. Aber nicht im riesigen Glaskuppelsaal des Grand Palais, dessen angeberische Schönheit mich immer in rauschhafte Zustände versetzt, sondern nur in einem der Nebentrakte, nämlich in dem rechten, mit den abgehängten Decken und den Rolltreppen und der langgezogenen Cafeteria. Manchmal frage ich mich, wie sich lebende Künstler wohl fühlen müssen, wenn sie irgendwo in den klassischen Kunstmetropolen der westlichen Welt in einer der klassischen Großausstellungskunsthallen ausstellen. Kann man Ego-Booster-Situationen dieser Dimension ohne größeren Schaden überhaupt psychisch verkraften? Und wie verarbeitet man die öffentliche Demütigung, nicht im protzigen Glaskuppelsaal des Grand Palais ausgestellt haben zu dürfen?
Vor einigen Jahren hatte ich bereits eine Viola-Ausstellung in den Kunststiftungsräumen einer spanischen Bank in Madrid gesehen und war – soweit dies im Rahmen von bankgesponserten Kunststiftungsräumen möglich ist – für meine zum Nörgeltum neigenden Verhältnisse sehr davon angetan. Vielleicht haben mich aber auch nur besonders die damals kaum verbreiteten großformatigen Flachbildschirme beeindruckt, auf denen die Viola-Videos gezeigt wurden. Bis weit in die Neunziger, so kommt es mir heute vor, wurden Arbeiten von Videokünstlern immer und ausschließlich auf diesen nicht besonders großen, kubischen, schwarzen Studio-Monitoren von Sony abgespielt, die Freunde aus der sogenannten Kunstszene auch bei sich zuhause rumstehen hatten, um darauf Arte und Der Preis ist heiß zu schauen. Bill Violas Arbeiten sahen in ihrer Gemäldehaftigkeit auf den großen, sehr hoch aufgelösten LCD-Screens der Bank auf jeden Fall so super aus, dass ich noch heute jeden Sports-Bar-Besitzer verstehen kann, der sich mit mindesten acht je zwei Quadratmeter großen Flachbildschirmen seine aufkaschierten Fake-Backsteinwände zumauert, um seine Gourmet-Burger verzehrenden Gäste mit den Programmen von Eurosport, DMAX und VH1 Classic zuzuschütten.
Die meisten der im Grand Palais aufgeführten Arbeiten Bill Violas wurden – die Technik ist nochmals weiter fortgeschritten – nicht mehr auf popeligen Flachbildschirmen gezeigt, sondern in abgedunkelten Räumen als riesige All-Over-Wandprojektionen präsentiert. Wie in einem Darkroom tastete man sich durch die Dunkelheit und war dabei von projizierten Viola-Riesenmenschen umgeben, die sich in extremer Zeitlupe durch Natur bewegen, in schwarze Gewässer springen oder nackt auf einen zukommen. Die Stimmung unter den anwesenden Ausstellungsbesuchern ist sakral bis ehrfurchtsvoll. Ungefähr so wie man in den Achtzigerjahren als atheistischer Tourist spanische Kathedralen besucht hat, in denen gerade ein Gottesdienst abgehalten wird. Immer mit der Angst, gleich rausgeschmissen zu werden, weil man ein ärmelloses T-Shirt trägt oder gerade den lateinischen Text des Magnificat nicht mitbeten kann. Wenn überhaupt jemand spricht, dann nur im Tuschelton, wenn sich überhaupt jemand bewegt, dann nur schleichend, um kurz darauf wieder in einen Zustand der kontemplativen Starre zu verfallen.
Nachdem ich am Tag zuvor bereits im Musée Maillol die aus Neapel nach Paris transportierten Schauobjekte der Schatzkammer des San Gennaro mit all ihren diamantbesetzten Kreuzen, Vollsilberheiligen und Gold-Rubin-Tiaren konsumiert hatte – vielleicht das Prunkvollste, Übertriebenste, was ich überhaupt jemals gesehen habe – war mein spirituelles Empathievermögen schon so weit aufgebraucht, dass mir Violas küchenreligiöse Bibelanspielungen im Vergleich zum Blutwunderkuriositätenkabinett des Heiligen Januarius fast schäbig und flach vorkamen. Gerade als sich auf dem Videoscreen eine männliche, jesusartige Figur mit weit ausgebreiteten Armen in eine digital manipulierte Feuerbrunst fallen lassen wollte, ertönte aus irgendeinem Lautsprecher das Dingdong der Museumsdurchsage. Eine sonore Frauenstimmte forderte Interessierte dazu auf, in fünfzehn Minuten der Podiumsdiskussion im Auditorium zum Thema Sexsucht beizuwohnen.
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